29.9.2014 Kassel - Hessisch Lichtenau




Zweimal ist meine Mutter mit mir geflohen. Das erste mal, als ich dreieinhalb Jahre alt war, aus Waldenburg in Schlesien mit dem vorletzten Zug nach Stadtroda in Thüringen. Und später dann nach Apolda. Die Großeltern, früher arme Bergleute, wurden aus dem Häuschen in der Bismarckstraße 11 in Bad Salzbrunn vertrieben. Im letzten Jahr durfte ich das Haus sehen. Es war das einzige renovierte Haus in der Straße. Weißgestrichen mit Garten. Der Besitzer bat uns herein. Die alte Holztreppe war mir noch stark in Erinnerung. Wegen dem Umbau war die Schiebetür mit Glas nicht mehr. In Apolda lebten wir in einer Villa in der Nähe vom Bahnhof in der Böhmestraße 22 mit mehreren Vertriebenen zusammen. In Stadtroda mußten sich die Frauen vor den Vergewaltigungen der Russen in acht nehmen. Meine Mutter konnte sich auf polnisch mit Piotr verständigen. Er gab ihr Arbeit und verschonte sie. Sie nähte Taschen auf die Russenhemden und bekam Lebensmittel dafür. Zu Hause wurde eher schlesisch gekocht. Schlesich Himmelreich, Backobst mit Räucherfleisch zu Heiligabend schmeckte mir nicht. Meine Großmutter väterlicherseits kochte auch thüringer Klöße. 

Die Mutter hatte auch noch in Berlin Musik studiert. Sie wurde von Prof. Moser in Kattowitz entdeckt und nach Berlin geholt. Das kam ihr dann zugute. Der Vater war im Krieg in Stalingrad geblieben. Vermißt. Er war Geiger. Als Musiklehrerin arbeitete die Mutter in der Oberschule in Apolda und wurde dann in die Grundschule versetzt, weil sie nicht linientreu hinter der DDR Politik stand. Ich war bei all ihren Aktivitäten dabei. Ferienspiele unter dem Baum in der Promenade. Durfte nicht Pionierin werden und wollte gern, weil man dann in die AG Radiotechnik oder Volkstanz gehen durfte. Meine Freundin Katrin war Freundschaftsratsvorsitzende und hatte drei Balken am Hemd. Sie durfte auch zu Pioniertreffen in die Wuhlheide fahren und ihr Halstuch gegen ein rotes der sowjetischen Freunde tauschen. Ich wurde auch ausgegrenzt. War immer scharf auf Abzeichen, auch solche, die man als Souvenir im Urlaub kaufen konnte. Als wir das Bild von Stalin an der Wand umdrehten, als er 1953 starb, bekamen wir Ärger. 

Ungefähr in dieser Zeit war in Apolda eine Unwetterkatastrophe. Eine Flutwelle kam den Faulborn herunter und riss ein ganzes Haus mit. Klaviere schwammen im Wasser. Mit dem Onkel aus Leipzig konnte ich immer bäuchlings auf der Cauch liegend Rätsel in den Trollheften lösen. Die Mutter hielt mich an, gut zu lernen in der Schule. Ich bekam Klavierunterricht und ging ins Schwimmbad mit meinen Freundinnen. Am 2. August 1954 bin ich mit meiner Mutter nachts mit 2 Koffern nach Bad Nenndorf bei Hannover geflohen. Die Scheinheiligkeit ihrer parteitreuen Kollegen hielt sie nicht mehr aus, obwohl sie ja zurück an die Oberschule versetzt wurde nach dem 17. Juni 1953. 

Mit Hilfe ihres Professors aus Berlin bekam sie im Westen eine Stelle als Lehrerin. Drei Wochen davor konnte ich mich noch durchsetzen und mit 13 Jahren Pionierin werden und bekam das blaue Halstuch. Nach meinem Studium der evangelischen Religion und Latein auf Lehramt in Marburg, Heidelberg, Berlin und Göttingen bekam ich eine Anstellung als Lehrerin in Hessisch Lichtenau. Heirat. Drei Kinder wurden geboren. Wir bauten ein Haus. Die obere Etage für die Mutter, die untere für unsere Familie. Die Mutter war stets dabei. Ich war ihr immer sehr dankbar. Vom Vater kann mir nur noch Tante Anneliese in Stadtroda erzählen. Ich kannte ihn kaum. Auf einem Foto hält er mich mit einem dreiviertel Jahr auf dem Arm. Ich habe einen Vater immer vermißt. Von der Familie bleibt noch Udo, ein Cousin mütterlicherseits. Er ist 1989 über die Warschauer Botschaft in den Westen geflohen und lebt in Schüttdorf in Norddeutschland. Wenn ich in Thüringen bin, fühle ich Heimat.