30.9.2014 Hessisch Lichtenau - Waldkappel




Nach Waldkappel laufe ich parallel zur Autobahn auf dem Herkules - Wartburg Radweg im Tal. Die Landschaft wird bergiger. Zur linken Seite der hohe Meisner. Die Erde ist rot. Ab Mittag ist es wieder frühlingshaft warm. Die Autobahn gehört zum Projekt der deutschen Einheit. Ein paar Radfahrer sind unterwegs. Baufahrzeuge und Traktoren. Eine Mühle am Ortseingang von Bischhausen und Fachwerkhäuser mit Vorgärten fallen auf. Ein Haus wird gerade frisch gestrichen. Der Ort ist denkmalgeschützt. Frau Hose ruft mich an, als ich gerade um die Ecke biege. Bin gleich da. Wir sitzen in der Küche auf der Eckbank. Ganz gemütlich. Ich bekomme Schnitzel. Der Ortsvorsteher hat die Dorfchronik für mich zurückgelegt. Die Geschichte und Kultur des Dorfes wird hier sehr gepflegt und gehört unmittelbar zur Identität und Verbundenheit mit der Gemeinschaft. Goethe war auch hier und hat eine Zeichnung hinterlassen. Mit Herrn Buhr tausche ich Geschichten aus, während seine Frau in der Gymnastikstunde ist.

Auf dem Rückweg vom Besuch bei der Verwandtschaft in Nordhausen vom 19. zum 20.9.89 lagen Nagelmatten auf der Straße. Man ahnte schon etwas von bevorstehenden Veränderungen. Trotzdem überraschend. Nach der Wende kamen die Trabikolonnen durch die Straßen. Immer Stau. Die bisherigen wirtschaftlichen Förderungen in den Zonenrandgebieten wechselten ihren Standort und die Firmen auch. Wegen der unterschiedlichen Tarife wurden niedriger bezahlte Arbeitnehmer aus dem Osten eingestellt. Nach der Wende fuhr man nun zum Einkaufen nach Mühlhausen. Vor den Gastwirtschaften warteten die Leute auf Sitzplätze. Fünf raus, fünf rein. Die Verwandten in Ellrich konnten besucht werden. Kleine Schreinerei im Wohnzimmer. Die Vorstellungen verknüpften sich mit der Realität.

29.9.2014 Kassel - Hessisch Lichtenau




Zweimal ist meine Mutter mit mir geflohen. Das erste mal, als ich dreieinhalb Jahre alt war, aus Waldenburg in Schlesien mit dem vorletzten Zug nach Stadtroda in Thüringen. Und später dann nach Apolda. Die Großeltern, früher arme Bergleute, wurden aus dem Häuschen in der Bismarckstraße 11 in Bad Salzbrunn vertrieben. Im letzten Jahr durfte ich das Haus sehen. Es war das einzige renovierte Haus in der Straße. Weißgestrichen mit Garten. Der Besitzer bat uns herein. Die alte Holztreppe war mir noch stark in Erinnerung. Wegen dem Umbau war die Schiebetür mit Glas nicht mehr. In Apolda lebten wir in einer Villa in der Nähe vom Bahnhof in der Böhmestraße 22 mit mehreren Vertriebenen zusammen. In Stadtroda mußten sich die Frauen vor den Vergewaltigungen der Russen in acht nehmen. Meine Mutter konnte sich auf polnisch mit Piotr verständigen. Er gab ihr Arbeit und verschonte sie. Sie nähte Taschen auf die Russenhemden und bekam Lebensmittel dafür. Zu Hause wurde eher schlesisch gekocht. Schlesich Himmelreich, Backobst mit Räucherfleisch zu Heiligabend schmeckte mir nicht. Meine Großmutter väterlicherseits kochte auch thüringer Klöße. 

Die Mutter hatte auch noch in Berlin Musik studiert. Sie wurde von Prof. Moser in Kattowitz entdeckt und nach Berlin geholt. Das kam ihr dann zugute. Der Vater war im Krieg in Stalingrad geblieben. Vermißt. Er war Geiger. Als Musiklehrerin arbeitete die Mutter in der Oberschule in Apolda und wurde dann in die Grundschule versetzt, weil sie nicht linientreu hinter der DDR Politik stand. Ich war bei all ihren Aktivitäten dabei. Ferienspiele unter dem Baum in der Promenade. Durfte nicht Pionierin werden und wollte gern, weil man dann in die AG Radiotechnik oder Volkstanz gehen durfte. Meine Freundin Katrin war Freundschaftsratsvorsitzende und hatte drei Balken am Hemd. Sie durfte auch zu Pioniertreffen in die Wuhlheide fahren und ihr Halstuch gegen ein rotes der sowjetischen Freunde tauschen. Ich wurde auch ausgegrenzt. War immer scharf auf Abzeichen, auch solche, die man als Souvenir im Urlaub kaufen konnte. Als wir das Bild von Stalin an der Wand umdrehten, als er 1953 starb, bekamen wir Ärger. 

Ungefähr in dieser Zeit war in Apolda eine Unwetterkatastrophe. Eine Flutwelle kam den Faulborn herunter und riss ein ganzes Haus mit. Klaviere schwammen im Wasser. Mit dem Onkel aus Leipzig konnte ich immer bäuchlings auf der Cauch liegend Rätsel in den Trollheften lösen. Die Mutter hielt mich an, gut zu lernen in der Schule. Ich bekam Klavierunterricht und ging ins Schwimmbad mit meinen Freundinnen. Am 2. August 1954 bin ich mit meiner Mutter nachts mit 2 Koffern nach Bad Nenndorf bei Hannover geflohen. Die Scheinheiligkeit ihrer parteitreuen Kollegen hielt sie nicht mehr aus, obwohl sie ja zurück an die Oberschule versetzt wurde nach dem 17. Juni 1953. 

Mit Hilfe ihres Professors aus Berlin bekam sie im Westen eine Stelle als Lehrerin. Drei Wochen davor konnte ich mich noch durchsetzen und mit 13 Jahren Pionierin werden und bekam das blaue Halstuch. Nach meinem Studium der evangelischen Religion und Latein auf Lehramt in Marburg, Heidelberg, Berlin und Göttingen bekam ich eine Anstellung als Lehrerin in Hessisch Lichtenau. Heirat. Drei Kinder wurden geboren. Wir bauten ein Haus. Die obere Etage für die Mutter, die untere für unsere Familie. Die Mutter war stets dabei. Ich war ihr immer sehr dankbar. Vom Vater kann mir nur noch Tante Anneliese in Stadtroda erzählen. Ich kannte ihn kaum. Auf einem Foto hält er mich mit einem dreiviertel Jahr auf dem Arm. Ich habe einen Vater immer vermißt. Von der Familie bleibt noch Udo, ein Cousin mütterlicherseits. Er ist 1989 über die Warschauer Botschaft in den Westen geflohen und lebt in Schüttdorf in Norddeutschland. Wenn ich in Thüringen bin, fühle ich Heimat.

28.9.2014 Kassel




Mai 1973, zwei Jahre alter BMW 2002, rot, mit 19000 km. Vom ersten selbstverdienten Geld und von der Gage als Gitarrist für Konzerte mit der "The river sunny man" Band. Meinolf mit Vollbart und langen Haaren, die er öfter waschen mußte. Das Outfit nicht ganz so alternativ, wie das seiner Sozifreunde, die in Hamburg, Bonn und Berlin studierten. "Ich bin dafür, dass ich dagegen bin..." im privaten Bereich etwas verrückt. Katholischer Sozi in Warburg revolutionär und anti. Das SBZ, ein Lexikon über die Sowjetische Besatzungszone vom Lehrer geschenkt bekommen. Die Definition von Sozialismus rot unterstrichen. Hessen war in Alarmbereitschaft wegen den Baader Meinhof Terroristen, die auch Unterstützung in der DDR bekamen. Auffällige Personen mit Alfa Romeo und BMW wurden kontrolliert. Auf Grund seiner optischen Erscheinung war Meinolf auffällig. Mehrere Uniformierte mit Maschinengewehr stellten ihm mit dem VW Bus nach. Radikalismus und Helfersyndrom. Oder Ablenkungsmanöver, dass die Anderen ihre Ideologie gegen Kapitalismus verfolgen konnten. 74 wurden die Haare aus beruflichen Gründen auf Normallänge gebracht und der Vollbart abgeschnitten.

Der kleine Grenzverkehr war vor der Wende uninteressant. Brigitte war mal da und war entsetzt über den maroden Zustand des Landes. Die Leute im Osten waren sehr bemüht als Gastgeber. Im Pelzmantel beim Osterfeuer fühlte sie sich overdressed. Erster gemeinsamer Besuch nach der Wende in Oberhof und Meiningen. Kohlesmog. Sächsische Schweiz Lilienstein 1994 zwei Wochen wandern. Ganz wunderbar. Den DDR Grenzstein, ein kleines Relikt der 40 Jahre Teilung an der tschechischen Grenze wollte man gern als Andenken mitnehmen.


26.9.2014 Warburg - Zierenberg



In Warburg ist eine Hochzeitsgesellschaft im Rathaus. Bei Ivonne noch Kaffee und Apfeltorte. Ihr kleines Etablissement möchte sich noch durchsetzen im Ort. Sie war 16 zur Wedezeit. Hatte einen Tag vor der Grenzöffnung ihren Freund und heutigen Ehemann kennengelernt und verbindet das historisch bedeutsame Ereignis mit ihrem glücklichsten Lebensabschnitt. Die DDR hat sie durch einen stark reglementierten Ausflug mit der Schulklasse nach Berlin kennengelernt und in Mecklenburger Urlauben direkt hinter dem Zaun. Man konnte rüber schauen, aber die Situation nicht verstehen.

Ich gehe Richtung Kassel. Die Landschaft wird bergiger. Die Sonne läßt sich heute nicht blicken, doch der Desenberg ist immer noch aus der Ferne zu sehen. Zuckerrübenfelder und Mais. In Wettesingen über die Grenze nach Hessen. Hinter Breuna wird es waldig. 

Keine Internetverbindung und noch keine Bleibe in Zierenberg. Ich frage im Golfclub und werde ein Stück mitgenommen mit dem Auto nach Ehlen. Es ist duster und regnet. Noch 3 km nach Dörnberg. Dort ist ein Hotel. DUNKEL. Aber der Wirt öffnet mir die Tür. 3 Männer beim Würfelspiel im Funzellicht. Sie erzählen vom Geruch der Zweitakter nach der Maueröffnung im Ort. Sie waren sehr hilfsbereit. Einer war auch schon im Osten und kannte die Lage. Wurde im Restaurant anders bewirtet, als die eigenen Landsleute. Andere haben den Ossis alte Autos und faules Obst verkauft. Der Hotelbesitzer hat den Ostdeutschen kostenlos Unterkunft gewährt, weil seine Mutter aus Leipzig stammt. Sie konnte die Wiedervereinigung nicht mehr erleben.

25.9.2014 Scherfede - Warburg



Zwei Wochen lang bin ich schon unterwegs. Jeder Tag ist neu. Etwas geht immer in Gedanken mit und vieles bleibt zurück. Mehr passt nicht in den Rucksack. Jede Begegnung ist außergewöhnlich und ich muss wieder loslassen. Ich erfahre Landschaft neu. Lebe im aktuellen Erzählstrang und in erinnerter Geschichte gleichzeitig.

Neue Grenzerfahrungen in Warburg. Hier steht noch das alte Rathaus aus der Stadtentstehung im 12. Jhd. Aus der Stadtgeschichte geht die Trennung in die Altstadt im Tal, wo die Töpfer, Gerber und Glockengießer Handwerker lebten und die obere Neustadt der Kaufleute hervor. 1532 kam es zu einer Vereinigung der beiden Städte. Über den Sitz des gemeinsamen Rathauses konnte man sich nicht einigen. Eine Messinglinie markiert noch den Grundriss des alten Rathauses der sogenannten Neustadt, die so alt ist wie die Altstadt. Neu gebaut wurde das "Rathaus zwischen den Städten" an der Stadtmauer, wodurch die politische Trennlinie erneut gezogen und die Geschichte immer aktuell bleibt.


Ursprung städtischer Besiedelungen ist die Möglichkeit von Schutz und Abwehr gegen äußere Feinde. Der kegelige Desenberg mit der Burgruine erinnert mich an eine der drei Gleichen in Thüringen. Zum Mythos der Stadt Warburg gehört auch die Fabel vom bösen Untier und der Familie von Spiegel, die auf dem Desenberg lebte und dem Volk sehr zugewandt, Schutz und Zuflucht bot. Ein böser Drache trieb sich in der damaligen Zeit umher, so wird erzählt. Er bedrohte die einfachen Menschen und trieb Unwesen in der Gegend. Ein tapferer Ritter traute sich, ihm nah zu kommen und hielt ihm einen Spiegel vor. Seit dem ist der Drache auf der Flucht und wurde nicht mehr gesehen. FAMOS
 

24.9.2014 Lichtenau - Scherfede



Steil bergauf und über die Klippen der Eggeberge hinunter nach Hardenstein, wo eine alte Klosteranlage als Jugendhaus dient. Der Ort hat Tiefe und Atmosphäre. Dagegen eine stark befahrene Hauptstrasse mitten durch Scherfede. Zwei Hotels, ein Kaffee, ein Metzger ums Eck. Ich bin unschlüssig. Die Zimmer im Hotel Rose sind belegt. Im Café surfe ich im Internet. Das andere Hotel hat noch was frei für mich. 

Zwei alte Frauen nebenan am Eis schlecken. Eine ist am Vergessen erkrankt. In der evangelischen Kirche ist Unterkunft für Radfahrer mit Schlafsack. Ich darf ohne mitkommen. Das Hotel sage ich wieder ab. Margarita und Wilhelm wohnen in einem denkmalgeschützen Haus mit Garten neben der Kirche. Das geschnitzte Treppengeländer hat Wilhelm in liebevoller Geduldsarbeit zwei Jahre lang abgeschliffen, wenn das Wetter nicht für den Garten taugte. Er war früher Lehrer. 

Ich darf im Tanzsaal schlafen. 

Die Räume sind in alle Himmelsrichtungen aufgeteilt. Zur Küche hinauf eine kleine Treppe. Margarita, 1943 in Poznan geboren, kam über Brandenburg nach Nordlippe. Familiäre Wurzeln waren schon da. Die Eltern trafen sich dort nach dem Krieg wieder. Heimat kann überall sein. Mit dem alten DKW 1950 über Helmstedt nach Aschersleben die Großeltern besuchen. Die Grenze war noch durchlässig und doch mußten die fehlenden Papiere nachgereicht werden. Warten. Zwei unterschiedliche Systeme reiften grade nebeneinander heran. Sie und ihr Bruder wurden in Fellsäckchen gepackt wegen der Kälte. In dem Eckhaus am Platz der Jugend in Aschersleben war es auch nicht wärmer. Alle Zimmer waren vermietet. Man wohnte beengt. In der kalten Hinterhofstube wurde das Bett vorgewärmt. Heißes Wasser in Steinhäger Keramikflaschen gefüllt. Eine entleerte sich in der Nacht im Bett.